Der Silberpreis setzt seine Rallye eindrucksvoll fort: Mit Notierungen von mehr als 60 US-Dollar je Unze markiert das Edelmetall neue Allzeithochs und lässt Gold in der Performance deutlich hinter sich. Doch trotz des starken Aufwärtstrends rechnen die Analysten von Standard Chartered damit, dass der Silbermarkt kurzfristig anfällig für Rücksetzer bleibt – bevor die Rallye in eine neue Runde gehen könnte.
Im Mittelpunkt der aktuellen Einschätzung steht die Analyse von Suki Cooper, Global Head of Commodities Research bei Standard Chartered Bank. Sie sieht den Silberpreisanstieg fundamental gestützt, erwartet aber eine Phase der „Normalisierung“ im Markt, die mit erhöhter Volatilität einhergehen dürfte.
Silberpreis auf Rekordhoch – Gold/Silber-Ratio auf Mehrjahrestief
Silber hat in diesem Jahr eine beeindruckende Entwicklung hingelegt: Die Notierung ist im Jahresverlauf um mehr als 100 % gestiegen. Zwischenzeitlich wurde Spot-Silber bei rund 60,72 US-Dollar je Unze gehandelt – einem erneuten Rekordstand und einem Tagesplus von über 4 %.
Besonders auffällig ist die Entwicklung im Verhältnis zu Gold. Die Gold/Silber-Ratio ist auf etwa 69 Punkte gefallen und liegt damit auf dem niedrigsten Niveau seit Sommer 2021. Je tiefer diese Kennzahl, desto stärker hat Silber gegenüber Gold performt.
Cooper ordnet diese Dynamik als Übertreibungstendenz ein: Zwar spreche viel für eine strukturelle Neubewertung von Silber, doch kurzfristig könnten technische Faktoren und ein Abbau von Überhitzung zu einer Korrektur führen. Anders formuliert: Der übergeordnete Trend bleibt aus ihrer Sicht intakt, der Weg nach oben aber zunehmend holpriger.
Silber: Fundamentale Lage bleibt robust – mit neuen Akzenten bei den Lagerbeständen
Die treibenden Kräfte hinter der Silber-Rallye sind nach Einschätzung von Standard Chartered vielfältig. Seit Ende August habe sich ein „perfekter Sturm“ aus Lieferkettenproblemen, starkem industriellen Verbrauch und neu erwachtem Investmentinteresse aufgebaut.
Auf der Angebotsseite haben sich die Logistik- und Lieferketten zwar etwas entspannt, doch die Unsicherheit sei nicht vollständig verschwunden. Zugleich bleibt die physische Marktlage regional unterschiedlich angespannt:
- London (LBMA): Die Lagerbestände in den Tresoren der London Bullion Market Association sind im bisherigen Jahresverlauf um rund 1.447 Tonnen gestiegen.
- Comex: Auch in den US-Lagerhäusern der COMEX verzeichnet Standard Chartered einen Zuwachs – hier um etwa 4.311 Tonnen seit Jahresbeginn.
- China: Im Gegensatz dazu seien die Bestände an den chinesischen Märkten zurückgegangen, was auf eine starke physische Nachfrage in der dortigen Industrie schließen lässt.
Nach Berechnungen der Bank liegt das Verhältnis der Vorräte zwischen LBMA und Comex aktuell bei rund 1,91 – dem höchsten Stand seit Januar. Der Großteil des physischen Silbers befindet sich also in London.
Allerdings steht nicht das gesamte Metall dem freien Markt zur Verfügung: Ein erheblicher Anteil der Bestände ist über physisch hinterlegte Silber-ETPs (Exchange Traded Products) gebunden. Laut Cooper sind etwa 78 % der in LBMA-Tresoren gelagerten Silberbestände durch ETPs belegt – ein Anstieg gegenüber 65 % im November 2024, aber unterhalb der 83 % vom September 2025, als sich die Marktlage deutlich zuspitzte.
Diese Entwicklung zeigt: Die Liquidität im Markt hat sich im Vergleich zur Phase maximaler Verengung etwas entspannt, bleibt aber stark vom Verhalten der ETP-Investoren abhängig.
Silber-ETPs als Taktgeber: Zuflüsse auf höchstem Niveau seit 2020
Kurzfristig dürften laut Standard Chartered vor allem die Investmentströme in Silber-ETPs den Ton angeben. Die Produkte verzeichnen aktuell die stärksten Zuflüsse seit dem Jahr 2020.
Allein im November seien die Bestände der Silber-ETPs um 487 Tonnen angewachsen, im Dezember kamen bereits weitere 475 Tonnen hinzu. Das unterstreicht die Attraktivität von Silber als Anlagevehikel, insbesondere vor dem Hintergrund hoher Preisvolatilität und der Diskussion um kritische Rohstoffe.
Interessant ist dabei die Parallelbewegung von ETP-Beständen und Lagerbeständen in London: Während die Investmentnachfrage wächst, steigen die verfügbaren Bestände in den LBMA-Tresoren noch schneller. Das deutet darauf hin, dass sich die extremen Engpässe der Vergangenheit etwas gelockert haben – ohne dass der Markt vollständig entspannt wäre.
Cooper spricht in diesem Zusammenhang von einer „Normalisierung“ der Marktmechanik: Hohe, aber weniger hektische Lease-Rates, wieder aufgefüllte Bestände in London und nachlassende Nachfrage aus Indien nach dem Ende der saisonalen Festtagskäufe hätten die unmittelbare Spannung verringert. Zugleich bleibe das Marktumfeld anfällig für neue Störungen, sei es durch Nachfrageschübe oder regulatorische Entwicklungen.
Ausblick: Silber bleibt im Aufwärtstrend – mit Korrekturrisiko und politischem Faktor
Trotz der bereits starken Kursgewinne behält Standard Chartered eine grundsätzlich positive Sicht auf den Silberpreis bei. Die Bank geht aber davon aus, dass der Markt vor neuen Hochs zunächst eine Konsolidierungsphase durchlaufen dürfte.
Ein wichtiges Argument dafür liefert die Gold/Silber-Ratio: Mit derzeit 69 liege sie zwar noch über ihrem langfristigen Mittelwert von etwa 65, spiegele aber die deutliche Outperformance von Silber in den vergangenen Monaten wider. Aus Sicht von Cooper wirkt das Verhältnis daher „etwas überdehnt“ – ein Hinweis darauf, dass kurzfristig eine Gegenbewegung möglich ist.
Hinzu kommt ein politischer Risikofaktor: Der Markt blickt gespannt auf den Section 232 Critical Mineral Report der US-Regierung. Je nachdem, wie Silber oder verwandte Materialien dort eingestuft werden, könnte dies regionale Marktengpässe verstärken, etwa durch neue Handelsbeschränkungen oder Zollstrukturen. Eine solche Entwicklung könnte die Volatilität weiter erhöhen und regionale Preisunterschiede vergrößern.
Unterm Strich zeichnet Standard Chartered ein Bild von Silber als Edelmetall in einem anhaltenden Aufwärtstrend – getragen von robusten Fundamentaldaten, aber zunehmend geprägt von taktischen Investmentströmen und politischen Einflussfaktoren. Kurzfristige Rücksetzer und ausgeprägte Schwankungen gehören in einem solchen Umfeld zum Szenario, bevor der Markt – aus Sicht der Analysten – potenziell zu neuen Hochs ansetzen kann.